Deutschland produziert laschen und langweiligen Freestyle

Ich habe die Freestyle Präsentation meiner gefilmten Küren untersucht und ein – für Deutschland mieses – Ergebniss erhalten. Die Präsentationsleistung habe ich auf Schulnoten umgerechnet. Hier ist der Notenspiegel:

1 2 3 4 5 6 Schnitt
0 1 4 16 16 5 4,6

Aber mal der Reihe nach, wie es dazu kommt:

Basis der Untersuchung sind meine Videoaufzeichnungen, die ich während der BDR Freestyle Meisterschaft in Dietzenbach 2011 aufgenommen habe. Aufgenommen wurden die Küren mit der Casio Exilim-F1 in HD-Ready (720p) – die Gesichter und auch Mimiken sind auf dieser Aufnahmequalität ausgezeichnet zu sehen. Bewertet habe ich nur Einzelküren. Insgesamt habe ich 32 Küren bewertet, so verteilt:

Frauen U13 2
U15 9
U17 5
U19 6
19+ 5
Männer 5

Um die Präsentationswertungen ranken sich viele Mythen. Hier mal zwei:

  1. Die Präsentationswertungen sind zu dominant. Tricks zählen ja fast garnicht mehr.
  2. Die Japaner bewerten unsere Präsentation nicht richtig

Die zwei Mythen kann ich mit dieser Untersuchung hoffentlich demythisieren.

Aber nun zur Untersuchung selbst.

Methode

Die Präsentationswertung kann mit dem aktuellen Freestyle Judging System nicht korrekt gemessen werden, es ist zu alt. Wer sich daran festhält begeht einen Fehler. Daher habe ich mir eine eigenes Bewertungssystem für diese Untersuchung ausgedacht, hier sind die Kriterien:

  • Selbstsicher/-bewusst: Wird die Kür sicher oder unsicher gefahren und kann der Fahrer die Sicherheit an das Publikum weitergeben.
  • Körperspannung: Hängt der Körper schlapp herum oder ist der Körper angespannt. Gilt sowohl für den Ganzkörper als auch für langsame kleinamplitudige Bewegungen.
  • Spannung: Hält die Kür den Zuschauer im Atem oder passiert nichts (oder zu spät) und der Zuschauer schläft dabei ein? Ist die Kür über die gesamte Dauer spannend, dann sollte der Zuschauer am Ende traurig sein, dass die Kür zu vorbei ist.
  • Durchdringung: Fährt ein Fahrer nur sturr seiner Choreographie nach, von a nach b nach c, entsteht dadurch ein Zustand der Apartheit? Die Kür ist gestückelt und wird so vorgefahren. Zwischen Fahrer und Kontext der Kür klafft es, denn eigentlich werden zwei Küren gezeigt. Im Gegenteil dazu gehen Kontext der Kür und Fahrer eine Symbiose ein und kreieren etwas ganz fantastisches? Die Kür wird als Einheit gefahren.
  • Natürlich: Kommen die Bewegungen, Mimiken und Gesten vom Fahrer oder sind sie z.B. eine Kopie des Trainers? Im letzteren Fall entsteht eine künstliche Präsentation.
  • Volle Amplitude: Arme werden häufig benutzt, das ist gut. Gerne wird der Arm dabei gestreckt. Wahrgenommen wird die Streckung nur, wenn die volle Amplitude erreicht wird (bezieht sich auf alle Bewegungen, nicht nur die Arme).
  • Bewegungssegmente: Es gibt 6 Bewegungssegmente: Kopf und Hals, Schultern, Brustkorb, Becken, Arme und Beine. Ist in Küren eine monotone Bewegung in den Armen zu verzeichnen oder gibt es einen interessanteren Mix?

Die ersten 5 Variablen wurden als Prozente gemessen. Also zu wieviel Prozent war das Merkmal während der Kür präsent. Die letzten beiden Variablen wurden in der Häufigkeit ihres Vorkommens gemessen. Die volle Amplitude ist natürlich nur zu messen, wenn eine Bewegung die volle Amplitude ausnutzen soll.

Ergebnisse

Zur Übersicht der Ergebnisse, die Mittelung, Standardabweichung und Range der erreichten Einzelwerte:

Selbstsicher: 61% ± 20%, Min: 5, Max: 95
Körperspannung: 35% ± 25%, Min: 5, Max: 95
Spannung: 36% ± 21%, Min: 0, Max: 80
Durchdringung: 50% ± 27%, Min: 0, Max: 100
Natürlich: 54% ± 23%, Min: 10, Max: 90
Volle Amplitude: 2 ± 2, Min: 0, Max: 6
Bewegungssegmente: 2 ± 1, Min: 0, Max: 5

Um nun auf die Noten zu kommen, wurden die Einzelwerte verrechnet. Die Werte der vollen Amplitude waren hierzu ungeeignet. Der Wert für die Spannung der Kür wurde doppelt berechnet, er zeigte sich als wichtigster Faktor. Die Formel zu Berechnung der prozentualen Bewertung einer Kür:

= (Selbstsicher + Körperspannung + Spannung * 2 + Durchdringung + Natürlich + Bewegungssegmente / 6 * 100) / 7

Die Noten wurden anhand folgender Liste ausgezählt (siehe Artikel Schulnote auf Wikipedia):

  • 100 % bis 92 % = Note 1
  • 91 % bis 81 % = Note 2
  • 80 % bis 67 % = Note 3
  • 66 % bis 50 % = Note 4
  • 49 % bis 30 % = Note 5
  • 29 % bis 0 % = Note 6

Notenspiegel s.o.

Diskussion

Auffallend niedrig sind die Werte zu Körperspannung und zur Spannung der Kür, aber keine Überraschung. Gerade mal auf mittlerem Prozentniveau befinden sich die Durchdringung und die Natürlichkeit, nur wenig besser die Selbstsicherheit. Letztere lässt sich etwa damit erklären, dass im Training nur Tricks, aber keine Präsentation trainiert wird. Bei im Mittel 2 Bewegungssegmenten ist das auch keine starke Ausbeute. Hier wurde nicht gezählt mit welcher Häufigkeit welche Bewegungssegmente bewegt werden. Stark dominant sind hierbei jedoch die Arme. Die meisten anderen gezählten Bewegungssegmente treten hier oft nur einmalig auf (nach subjektiver Einschätzung).

Nichtsdestotrotz möchte ich die 4 Küren – die unterschiedlicher nicht sein könnten – vorstellen, die am besten abgeschnitten haben:

  • Nadine Weng: Bewegung ohne Ende, hier geht die Post ab. Die gefahrene Kür war zu Lena Meyer-Landrut, Satellite. Die Bewegungsvorgaben durch die Lena waren hier eindeutig getroffen, nicht kopiert aber dennoch exakt mit der eigenen Persönlichkeit dargestellt. Auch im Training geht die Nadine so ab, hier ist 120% Party am Start, langeweile ist woanders.
  • Kim-Laura Parchent: Die tänzerische Ausmahlung war vor allem durch die vielfältigen Bewegungen sehr stark. Langeweile für den Zuschauer wurde somit vermieden. Die Bewegungen wurden ernstahft übertrieben und trafen deshalb auch oft die volle Amplitude, die gezeigte Körperspannung unterstütze. Ein leichtes bei der Kür nur auf den Oberkörper zu schauen, die Tricks ließen sich komplett ausblenden, Unterhaltung war auch so garantiert.
  • Maren Sender: Maren ist als Batgirl gefahren. Das Interessante an der Kür waren die eher wenigen Bewegungen. Die Musik gab die Spannung vor, die Bewegungen waren gezielt zur Betonung gesetzt. Die Spannung ergab sich vor allem aus der ruhigen und überzeugenden Fahrweise. Die Tricks wurden gerade mit dem Minimum an Vorbereitung gefahren um die Zuschauer nicht durch zu lange Anfahrtszeiten zu ermüden.
  • Till Wohlfarth: Der Till zeigt Tricks immer in einer gewissen Gemütlichkeit. Das ist alles andere als einfach. Hier kommt keine Hektik in der Kür auf, die Körperspannung hält das zusammen und unterstützt die nicht-hektische Ausführung. Beim Till ist es aber weniger die Präsentation die für die Spannung zuständig ist, sondern seine Tricks. Die angespannten, Zähne bibbernden Zuschauer überlegen „Welchen Hammer-Trick zaubert der Till als nächsten?“. Den Luxus können sich in Deutschland allerdings nur eine handvoll Fahrer erlauben (Seine Schwestern etwa in der Paarkür).

Außerdem konnte ich folgendes Feststellen:

  • Selbstsicherheit hängt mit der Tricksicherheit zusammen. Eigentlich sind es zwei unabhängige Zustände, eine Differenzierung zwischen beiden ist anscheinend noch nicht ausreichend trainiert. Hier hängt noch der alte Gedanken in den Fahrern fest: Die Präsentation „geht schon nebenbei“.
  • Körperspannung und Beherschung der Tricks. Wer seine Tricks in Ruhe ausführt zeigt zugleich auch eine bessere Körperspannung. Ein logischer Schluss, denn im umgekehrten Fall wenn der Trick hektisch ausgeführt wird, sind womöglich noch nicht alle Freiheitsgrade offen, die Bewegung ist unökonomisch, für den Trick überflüssige Muskeln werden kontrahiert und statt Körperspannung gibt es Verkrampfung.

Insgesamt gibt es nach dieser Untersuchung keine fröhliche Bilanz für deutsche Freestyler.

Mögliche Ursachen

  • Das Freestyle Judging-System. Ich habe es ja oben schon angesprochen, das System ist schon alt. Heute wissen wir (ich?) mehr über unseren Sport. Im Freestyle Judging-System ist es aber noch nicht untergebracht. Ich habe schon viele Gespräche mit Ryan Woessner darüber geführt (Präsident der IUF). Er kennt die Schwachstellen, wir sind in engem Kontakt und überlegen die nächsten Schritte zu Verbesserungen, ein neues Judging-System ist hier geplant.
  • Judges. Obgleich das Judging-System die Vorgabe für das Bewerten ist, müssen die Judges die Bewegung reliabel erkennen, analysieren und valide einordnen. Hierfür sind Kentnisse über die Bewegungen (allgemein als auch einradspezifisch) notwendig, ähnlich wie ein Arzt über medizinische Kentnisse verfügt. Ein viel zitierter Satz aus dem Training: „Warum soll ich das machen? Kann ja eh kein Judge sehen“.
  • Fahrer. Wenn vor 2-3 Jahren das Bewegen der Arme noch als modern und galt, ist das heute ein de-facto Standard nur leider noch ungenügend. Hier muss das Interesse für bessere, spannendere und vielfältigere Präsentation entstehen.

Das bringt mich zu den oben genannten Mythen.

Demythisierung

Die aktuelle Situation ist ein Teufelskreis. Die Fahrer bekommen für Ihre Präsentation ganz gut Bewertungen, warum sollte man sich hier also verbessern, wenn die Wertungen in einen guten Bereich fallen? Das ist eine deutsche Hochlobung, auf internationaler Ebene funktioniert das nicht mehr. Die Bewertungen der Japaner gegenüber den deutschen fallen weitaus negativer aus, eine Begründung dafür liefert diese Untersuchung. Die Bewertung der Japaner ist hier viel näher der Realität als eine Deutsche.

Die Situation in Deutschland lässt sich sogar noch detailierter beschreiben: Als Bürokratieliebhaberland Nr.1 werden die Vorgaben durch das Freestyle Judging-System sehr genau genommen. Dadurch ergibt sich eine kategoriale Einordnung der Küren in die Wertungsvorgaben. Nur wer in den Kategorien x, y, z gut abschneidet, bekommt auch einen guten Platz. Zu viele fehlende Aspekte, die dabei fallen gelassen werden. Wer einen guten Platz haben will, muss dafür nicht zwingend eine gute Kür fahren . Ist die Absteckung der Kategorien hier zu eng? Probleme bei der Übersetzung vom englischen ins deutsche? Könnte an der Natur beider Sprachen liegen, mit der deutschen Sprache lässt es sich um ein vielfaches genauer beschreiben. Bei der Übersetzung ist dann möglicherweise im deutschen nur eine Ausprägung getroffen worden? Ich weiß es nicht, aber das untersuche ich als nächstes.

Insgesamt würde ich vorschlagen, aufgrund dessen und um Rücksicht auf das Alter des Freestyle Judging-Systems hier einen Schritt zurück treten und die Formulierungen etwas unschärfer zu bewerten. Bei der Präsentation aber schärfer auf die Kriterien dieser Untersuchung zu achten, im Zuge einer internationalen Anpassung. Zukünftige Judging-Systeme werden das auch.

Kritik

Natürlich muss auch diese Untersuchung kritisch betrachtet werden! Ich selbst auch, so sind mir währenddessen folgende Punkte aufgefallen:

  • Bei der Bewertung wurde das Gesicht vergessen. Blickrichtung und das Mimikspiel (nur Grinsen genügt heute nicht mehr, es ist nur eine Option unter vielen).
  • Volle Amplitude als Parameter ist wichtig, für diese Untersuchung aber nicht optimal gewählt.
  • Bei den Bewegungssegmenten wurde nur gezählt, wieviele verschiedene Bewegungssegmente genutzt werden, nicht aber deren Häufigkeit, die für eine Aussage über die Variation natürlich besser geeignet gewesen wäre. Ganz klar lässt sich sagen werden hier die Arme eingesetzt, die anderen Segmente werden meistens nur einmal bewegt.
  • Generell gibt es keine erwiesene Auswahl der Variablen, die obige Auswahl ist also der erste Schritt.
  • Die Bewertung habe nur ich gemacht. Eine Expertengruppe wäre hierzu besser geeignet. Weniger aber Einradfahrer, eher Tänzer.

Abschneiden bei der Unicon 15

Die Ergebnisse der Unicon 15 in Wellington, Neuseeland beweisen die Ergebnisse dieser Untersuchung. Deutschland ist dafür bekannt international mit hohem technischem Niveau aufzutreten, das Abschneiden wird also weniger dadurch beeinflusst. Hier mal der Medallienspiegel der Deutschen im Freestyle bei der Unicon 15 (Plätze 1 – 6):

Platz Einzelkür Paarkür
1 1 1
2
3 4 1
4 4
5 1 1
6 1 1

In dieser Platzierungsreihenfolge fallen die deutschen Platzierungen nicht so sehr auf. Deutlicher ist die negativ-Verteilung (nur gezählt, wenn die Plätze nicht unter die ersten 6 fallen):

Platz Einzelkür Paarkür
Letzter Platz 2 2
Vorletzter Platz 5 1
Drittletzter Platz 1 1

Die Deutschen sind besser darin, die letzteren Plätze statt den vorderen zu belegen. Die vorderen Plätze gehen zumeist an die Japaner.

Verbesserungen

Um den genannten Zustand zu verbessern, muss an vielen Stellen gearbeitet werden:

  • Freestyle Judging-System. Dieser Punkt ist sicher der starrste und die Änderung wird hier am längsten dauern. Wie oben schon angesprochen bin ich mit Ryan Woessner im Gespräch über ein neues System. Meiner Vermutung nach, wird nächste Unicon ein Kommittee dazu gegründet.
    • Es gibt aktuell ein IUF Kommittee, dass sich mit der Qualität der Judges befasst. Das besteht aus Felix Dietze, Christian Hoverath und mir. Wir untersuchen dazu die Qualität in Deuschland. Erkenntnisse werden hier in die Ausbildung und das neue Freestyle Judging-System fließen.
  • Judges. Hier kann die Ausbildung direkt beginnen. Dazu muss nicht auf das neue Judging-System gewartet werden.
  • Trainer & Fahrer. Präsentation geht nicht mal nebenbei. Die muss zusätzlich trainiert werden oder in das tägliche Training integriert werden. Hier muss ein Umdenken stattfinden.