Die Freestyle (R)evolution schleicht sich gerade an, sie ist im Gange. Wenige machen mit, wissen es aber nicht; einige täten vielleicht, sind womöglich zu feige, zu gewagt das Ganze… dann doch lieber beim Gewohnten bleiben, doch das hat längst ausgediehnt… eigentlich war es nie als solches gedacht…
Einrad-Freestyle ist eine technisch-kompositorische Sportart und reiht sich damit in die Riege neben Turnen, Eiskunstlauf, Rhythmische-Sportgymnastik, Tanzen und ähnlichen Sportarten ein. Allen gemein ist, dass ihnen der Aspekt der Ästhetik nachgesagt wird. Allen? Nein im Einrad-Freestyle ist diese Aussage (noch) zu verneinen. Deswegen der soziologisch angehauchte Erklärungsversuch (als Lehre vom zweiten Blick), der dem Einrad-Freestyle den Spiegel (aus Sicht einer unbeteiligten, dritten Person) vorhalten soll.
Es ist die „Ästhetik der Perfektion körperlicher Abläufe und Synchronisationen“ (Bette, 2011, S. 25) die die Sehlust des Publikums bedient. Kann der Einrad-Freestyle hier gegen die etablierten Sportarten bestehen? Auch diese Aussage ist zu verneinen. Ein Wettkampf im Einrad-Freestyle hat gerade die Qualität einer Schulaufführung. Kinder fahren ihre Küren und Eltern loben sie für die erbrachte „Leistung“ in den siebten Himmel. Die schroffe und kritische Bewertung der Kür durch einen Vertreter der anderen Sportarten bzw. aus dem Variete und der dort angelegten Qualitätsnorm bestehen nicht viele. Diese Kritiken würden die Traumblasen der vorher angesprochen Kinder in ihrer plüsch-rosa-roten Traumwelt unter Tränen platzen lassen. Selbst dem Wertungssystem gelang es bisweilen nicht, die unterschiedlichen Leistungsniveaus in ihrer Güte entsprechend einzustufen, stattdessen wurde Hokus und Pokus bewertet; Ästhetik als Hauptkriterium wurde zu einem insignifikanten Anteil geduldet.
Das Publikum besteht aus anderen Fahrern, Betreuern, Trainern und Familienmitgliedern der Fahrer, seltener gesellt sich jemand Externes dazu, Pressevertreter werden eingeladen. Tatsächlich legt die Einordnung der Sportart und die damit verbundenen Strukturen nahe die Externen zu locken, zu verzaubern und an die Spannung der Küren zu bannen aber dennoch passiert das nicht. Von einem Spektakel lässt sich deshalb noch nicht sprechen, der gemeine Wettkampf plätschert vielmehr von Dritten unbemerkt vor sich hin.
In Deutschland (aber auch in anderen Ländern) hat sich eine Kürmanufaktur etabliert. Dieses 0815-Standard-Schema läuft (etwas überspitzt) folgendermaßen ab:
- Zuerst wird ein Thema ausgesucht, das für die Kür die wichtigste Rolle hat, Verkleidung ist dabei das wichtigstes Bestandteil. Die Musik scheint dann geeignet, wenn das Wort des Themas sehr häufig im Liedtext auftaucht.
- Die Kür wird mit Tricks übervollgestopft, auch wenn diese garnicht zur aktuellen Musikstelle passen oder sich garnicht für die Kür eignen.
- Die übrige Zeit wird mit (Standard-)Handbewegungen, die sich auch in anderen Küren finden, aufgefüllt.
- Fertig.
Was fehlt ist der Hirnschmalz, der in die Choreographie und das Gesamtkonzept der Kür fließt und schließlich die Kreativität ausmacht, originelle Inszenierungen hervorzaubert um schließlich den Status Kunst zu verdienen. Stattdessen entsteht langweiliges rumgehampel und rumgehüpfe und gibt dem Vergleich zum „Zirkusgetue“ transintentional einen Nährboden und bestätigt ihn zugleich. Paradoxerweise finden diejenigen Freestyler, die in ihrer Sache Kunst entstehen lassen, Anstellungen beim Cirque du Soleil, dem Tigerpalast Variete oder vergleichbaren Einrichtungen. Die Ruhmeshallen sind Erinnerungen in den Köpfen der Zuschauer, in der Meisterstücke ihren Platz finden, doch diese bieten noch Platz – die Speicherkapazität ist noch nicht ausgereizt, es herrscht hierbei wenig bis keine Konkurrenz.
Daher stellt sich die populäre Frage: Ist das Kunst oder kann das weg? Die Seelen vieler Küren sind leer, magische Momente sind selten – nein, Kunst ist das nicht. Denkt man sich die überlangen Wertungspausen aus dem Wettkampf heraus, so kann man für das entstandene Produkt auch keinen Eintritt verlangen, das Niveau ist hierfür nicht ausreichend – das wäre beschämend dem Zuschauer gegenüber.
Aber kann es weg? Nein, keinesfalls! Der Einrad-Freestyle hat durch seine einzigartige Bewegungsart, kombiniert mit dem tänzerischen und theatralischen Elementen eine willkommene Nische gefunden. Der Sport muss dazu aber die Qualitätsnormen der etablierten Sportarten erreichen um mit ihnen um Zuschauer konkurrieren zu können. „Content is King“ heißt es. Im Einrad-Freestyle ist der „Content“ die Qualität, die Finesse, der Witz, die Intelligenz und die Spannung der Kür. Diese gilt es von den Sportlern zu liefern, um sich des Zirkus-Images zu entledigen und gleichzeitig den qualitativen Sprung und Aufwertung zu den etablierten Sportarten zu schaffen. Hier kommt die (R)evolution ins Spiel, die das Einradfahren dringend benötigt. Das betrifft die ganze Handlungskette und den damit verbundenen Akteuren, die am Einrad-Freestyle involviert sind. Vom Fahrer, Judges, Trainer über Personen die am Wertungssystem arbeiten und Ausbildung für alle vorgenannten. Der Flaschenhals ist natürlich letztgenannte, da sich zum einen die Sportwissenschaft nicht mit dem Einradfahren beschäftigt um umgekehrt sich die Einradfahrer nicht der sportwissenschaftlichen Erkentnisse bedienen und zuweilen widersprechen. Die (R)evolution kommt daher mit den zweigenannten Bereichen daher, die nun genauer erklärt werden.
Revolution
Mit der Revolution ist die Rückbesinning auf die teils oben genanten Werte aus den etablierten Sportarten gemeint. Im englischen heißt es nicht umsonst „ARTistic Freestyle“ und das Prädikat Kunst wurde besonders in der letzten Iteration der Regeln aufgegriffen und durch die neuen Performance Regeln ordentlich aufgewertet und zurechtgerückt. Alleine das Wort Performance grenzt sich deutlich zum Vorgänger Präsentation ab und meint ein Vielfaches des vorigen, qualitativen Niveaus. Die neuen Regeln stellen damit eine Zäsur dar und kippen das bisherige. Bereits während der Regeländerungsphase im Rulebook Committee war der Slogan Mach Kunst, kein Kitsch präsent und richtungsweisend. Was fehlt ist die essentielle tänzerische Grundausbildung um auch Körpertechnisch die Bewegungsqualität liefern zu können. Es gibt nun keine Ausrede mehr darauf zu verzichten, es gehört zur Pflichtausbildung für jeden Einrad-Freestyler (und hat es eigentlich auch schon immer).
In der nächsten Phase ist mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten, dass auch die Regeln für die Tricks eine (größere) Änderung erhalten und v.A. die Schwierigkeit und Qualität der Bewegungsausführung richtig darstellen – im Moment ist es ein scheinbar heilloses Durcheinander mit sogar falschen Bewertungskriterien. Darauf ist sich einzustellen. Insbesondere Trainer und Fahrer sollten diesen Prozess im Training adaptieren. Wer das Bein in seiner Arabesque noch immer nicht bis in die Fußspitze streckt, die Hand am Sattel hat und/oder die Hüfte aufdreht zeigt nicht nur eine für die ganze Sportart peinliche Bewegung sondern wird zukünftig gewaltig mit Punktabzug zu rechnen haben.
Evolution
Durch das o.g. 0815-Standard-Schema für Küren hat sich dämonenartig, langsam aber tief verwurzelt eine Monotonie für Küren eingeschlichen. Traurig, denn genau hier liegt das größte Innovationspotential für Küren. Während bei Tricks der Sättigungsgrad zunimmt ist gerade deshalb auf artistischer Seite noch viel zu holen. Es liegt nun an den Fahrern mit Küren zu überraschen. Wer hierbei aber an seinem – zumeinst nur Tricktraining – festhält wird hier zukünftig nicht mehr wettbewerbsfähig bleiben. Eine tänzerische Grundausbildung vorausgesetzt, werden sich Fahrer, die sich Inspiration und Innovation aus anderen Kunstbereichen aneignen die Nase vorn haben. Der Konsum von Kunst bezieht sich dabei nicht nur ausschließlich auf Bewegungskunst, sondern auch um Gestaltung von Dingen, Häusern (Architektur) … in Bereichen an denen man selbst Gefallen findet, um sein eigenes Repertoire zu vergrößern. Überraschungen werden sicherlich aus diesem Bereich stammen und von Fahrern und Trainern die es schaffen sich den Schleiermantel der Kürmanfukatur abzustreifen.
Ablauf der Freestyle (R)evolution
Alle Akteure sind in den Prozess der Freestyle (R)evolution mit eingebunden (Fahrer, Judges, Trainer über Personen die am Wertungssystem arbeiten und Ausbilder für alle vorgenannten). Kunst wird auch nicht von jetzt auf gleich entstehen, sondern benötigt eine gewisse Zeit um sich zu etablieren. Es muss nun etwas wachsen, an dem vorher nichts stand. Der Spross wird einige Jahre gedeihen müssen, ehe er seine Blüte zeigen kann und bis zu voller Blüte wird er sogar noch ein Weilchen mehr wachsen aber er ist nun gesetzt und das gießen und pflegen beginnt nun. Es ist nun an uns, dem Spross zu helfen und den Sport zu seiner angedachten Qualität zu verhelfen.
Literatur
Bette, K.-H. (2011). Sportsoziologische Aufklärung – Studien zum Sport der modernen Gesellschaft. transcript: Bielefeld.